#geschichtenderbefreiung

Eine Social-Media-Aktion der Interessengemeinschaft niedersächsischer Gedenkstätten und Initiativen zur Erinnerung an die Befreiung nationalsozialistischer Lager und Haftstätten. Die Links zu unseren Social-Media-Seiten gibt's im Menü.
Der folgende Slider enthält die ausführlichen Beiträge unseres Arbeitskreises.
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01.04.1945: Im KZ-Außenlager Conti-Limmer

Luftangriff auf Hannover: »Genau um 11 Uhr bricht plötzlich ein gewaltiges Bombardement über uns herein. Die arme Baracke, in der wir uns befinden, bebt und kracht. Die einen laufen zu den Unterständen, die anderen – zu denen ich gehöre – bleiben in der Stube. Das Getöse ist höllisch, Explosion auf Explosion. Das Rohr unseres Ofens reißt heraus, Ruß und Rauch entweichen; die Fensterscheiben zersplittern. Nach einer Stunde kehrt endlich Ruhe ein. Wir verlassen den block und – oh Verblüffung – der Himmel, der am Morgen völlig blau war, ist aschgrau geworden, als ob ein dichter Nebel alles bedecken würde. Es bleibt den ganzen Tag über so.«
(Jehanne Lorge, ehemalige Gefangene des KZ Conti-Limmer)
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06.04.1945: Räumungsmarsch, 1. Tag
Am frühen Morgen des 6. April 1945 überschreiten alliierte Truppen die Weser. Gegen 7 Uhr wird die Räumung der fünf KZ-Außenlager Hannovers befohlen. Die Häftlinge sollen in das ca. 160 Kilometer entfernte Hauptlager Neuengamme marschieren. Ihre Füße stecken in unbequemen Holzschuhen, die auf den unebenen oder gepflasterten Straßen schon nach kurzer Strecke Schmerzen verursachen.
»Am Morgen des 6. April scheinen unsere Wächter und Wächterinnen völlig verrückt. Als unsere Suppe gegen 9 Uhr fast fertig ist, wirft man uns auf einen Schlag Brote auf den Tisch (1 für je 2) und wir bekommen den Befehl herauszutreten. Mit Kolbenschlägen. Das Antreten dauert nicht lange, wir sind schnell gezählt. Wir lassen einige zu schwache Kameradinnen zurück: Sie haben Glück, sie werden vor uns befreit werden. Nach Befehlen und Gegenbefehlen, beladen mit unserem kleinen Beutel, einer Decke ... und einem Stück Brot, verlassen wir Hannover.»
(Rose Desserin, ehemalige Gefangene des KZ Conti-Limmer)
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06.04.1945: Räumungsmarsch, 1. Nacht in Fuhrberg (nach 36 Kilometern)

»Am späten Abend erreichten sie ein Dorf. Sie hielten vor der Scheune an, in der sie die Nacht verbringen sollten. Auf der Tenne lagen schon viele Menschen. Auf der Suche nach einem freien Platz musste ich über die Köpfe der Liegenden gehen. Man beschimpfte mich. Mit Mühe kletterte ich hoch, und nachdem ich über ein paar liegende Frauenkörper gestiegen bin, ließ ich mich aufs Stroh fallen. In der Scheune brannte ein schwaches elektrisches Licht. In dem anderen Teil der Scheune, auf dem Lehmboden, standen dicht aneinandergedrängt Häftlinge. Sie stritten miteinander, stöhnten, schrien. Man spürte, dass sie sehr gelitten haben, da sie wegen Platzmangels nicht einmal hocken konnten.
Die Blockältesten und der Kapo – die Bewacher dieser stöhnenden Häftlinge – machten es sich auf dem Stroh bequem. Sie machten sich an das Brot, die Margarine, den Zucker heran. Die von dem Essen herangelockten Mädchen robbten zu den Männern und ließen sich, im Gegenzug für ein Stück Brot, umarmen. Die Häftlinge von der Tenne riefen: ›Brot und Luft! Brot und Luft!‹ Die Kapos unterbrachen für einen Augenblick ihre Mahlzeit und die Liebkosungen, um auf die Köpfe der schreienden Männer zu springen und die Schreie mit Fäusten zu ersticken. Und dann kamen sie zurück zu den Mädchen ... Im Stroh eingegraben zitterte ich vor Kälte und konnte diese Schreie ›Brot und Luft‹ nicht aushalten. Was für eine Nacht, was für ein Alptraum.»
(Maria Suszyńska-Bartman, ehemalige Gefangene des KZ Conti-Limmer)
#otd
07.04.1945: Räumungsmarsch, 2. Tag
»Am Morgen sind wir entschlossen, zu widerstehen und den Abmarsch zu verweigern. Wir sind entkräftet, einige zittern vor Fieber, und alle haben schmerzhafte Blasen. Die Holzstücke, die wir an die Füße gebunden tragen und die Schuhe genannt wurden, sind nicht für lange Märsche gemacht. Der Oberscharführer hat unser Vorhaben erraten und kommt, begleitet von Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett. Er droht uns mit der Maschinenpistole, da wir nicht gleich reagieren; die Soldaten stoßen uns mit den Gewehrkolben. Wir haben Angst vor dem Unvermeidbaren, der mörderischen Lektion, und wir geben nach. Im Hofe sehen wir den Mann vom Vorabend. Er ist ein Häftling aus dem kommando Stocken, das uns vorausging bei dem großen Auszug. Er ist nicht mehr zu erkennen, eine fürchterliche Wunde hat ihm den Schädel geöffnet ... Wir müssen marschieren.«
(Stéphanie Kuder, ehemalige Gefangene des KZ Conti-Limmer)
#otd
07.04.1945: Räumungsmarsch, 2. Nacht in Hambühren (nach 16 Kilometern)
»Halt! Ein paar große Häuser auf der linken Straßenseite. Der Kommandant ist gegangen, um einen Zwischenaufenthalt auszuhandeln. Es geht! Sie selbst haben Unterkunft und Verpflegung gefunden. Bewacht von Soldaten, die sich im Verlauf der Nacht ablösen, werden die Häftlinge auf dem gegenüberliegenden Gelände zusammengepfercht.
Die Herde durchquert den Zaun. Es ist Platz für alle. Männer und Frauen hocken sich auf den schlammigen Erdboden, und der Regen durchdringt sie komplett. Außer dem Brot am Vortag und einem Glas Wasser haben sie nichts zu sich genommen."
(Jaqueline Francis-Bœuf, ehemalige Gefangene des KZ Conti-Limmer)
#otd
08.04.1945: Räumungsmarsch, 3. Tag
»Sie gingen an den Dörfern vorbei, die den polnischen Dörfern so unähnlich waren. [...] In ihren Träumen sahen sie kleine, mit Stroh gedeckte, zu Boden geneigte Hütten, wo sie bestimmt warmes Essen, ein Bündel frisches Stroh zum Schlafen bekommen würden. Wo man wohlgesinnte Herzen finden würde.
Und wieder das gleiche Hinschleppen von schmerzenden, mit Wunden und Blasen bedeckten Füßen. Und wieder dieser Marsch ins Unbekannte. So wie gestern und vorgestern fallen die Menschen vor Erschöpfung mitten auf dem Weg um. Und vielleicht ist es nicht mehr so weit zum Ziel. Wie viele Seufzer, wie viele Blicke werden in den Raum um uns herum geschickt. Immer mehr Menschen bleiben am Straßenrand liegen.«
(Maria Suszyńska-Bartman, ehemalige Gefangene des KZ Conti-Limmer)
»Wir gehen mit den Männern. Sie sind noch müder als wir, denn sie haben die Entfernung, für die wir zwei Tage brauchten, in vierundzwanzig Stunden zurückgelegt. Ihr Gesicht ist gelb, ihre Haut trocken, ihr Blick fiebrig. Sie gehen mit großen steifen, holprigen Schritten vorwärts; einige werden von Kameraden gestützt; ein Junge schleppt seinen röchelnden Vater. Alle Augenblicke verlässt ein erschöpftes und verzweifeltes Wesen die Kolonne und legt sich an den Straßenrand.
Ich werde niemals diesen sitzenden Mann vergessen. Ein SS-Mann nähert sich ihm, den Revolver in der Hand, und berührt seine Schulter. Ohne sich umzudrehen, erhebt sich der Mann und folgt ihm. Die Männer mit der Schaufel schließen sich an. Ein Schuss: Der SS- Mann und die Totengräber kommen allein zurück. Ich habe diesen Mann, der wusste, dass er sterben würde, gesehen: Sein Gesicht war leer. Die gleiche Szene wiederholt sich alle 500 Meter.«
(Stéphanie Kuder, ehemalige Gefangene des KZ Conti-Limmer)
#otd
08.04.1945: Räumungsmarsch, 3. Tag – Ankunft in Bergen-Belsen (nach 25 Kilometern)

»Die Tore öffneten sich, und die Häftlinge traten in das bitterkalte und fremd riechende Lager ein. Die eintönigen Straßen der Baracken waren durch Stacheldrahtzäune geteilt. Jede Lagerstraße endete mit einem bewachten Tor. Es schien, als gäbe es keine Gefangenen im Lager, als wären alle gestorben. Die Kälte, die Baracken, der Stacheldraht, die Wachtürme und die Straße, die wir mit unseren letzten Kräften gehen – all das erschien bedrohlich.“
(Maria Suszyńska-Bartman, ehemalige Gefangene des KZ Conti-Limmer)
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09.04.1945: Leid und Tod in Bergen-Belsen
»Wir sind von Toten umgeben. Die Baracke, die sich unserem block anschließt, ist gefüllt mit Leichen. An diesem Morgen wusste ich es noch nicht. Ich wollte zur Toilette gehen, irrte mich aber in der Tür. Als ich sie öffnete, zeigte sie auf ein Leichenfeld. Hunderte von toten, nackten Frauen ruhen durcheinander in grotesken Stellungen unter dem Zelt.«
(Stéphanie Kuder, ehemalige Gefangene des KZ Conti-Limmer)

#otd
10.04.1945: Befreiung in Limmer

»Plötzlich ist es still, mit gespitzten Ohren lauschen wir den Geräuschen in der Ferne, wir hören Gesang, ohne zu verstehen, was gesungen wird. Ich stehe am Fenster, da kommen sie, sie sind am Eingang des Lagers, wie verrückt wirbele ich herum, ich kann meine Latschen nicht finden, wir laufen hin, zwei amerikanische Schützen sind da, wie unsere Freude beschreiben, wir schauen sie mit gefalteten Händen an, mit Tränen in den Augen, sie sind überrascht, müde, sie haben drei Tage und drei Nächte gekämpft und wir sind die ersten französischen politischen Gefangenen, die sie treffen [...].
Sie bitten uns, das Lager nicht zu verlassen [....][weil] um uns herum immer noch gekämpft wird, also holen wir zu einer unvergesslichen Minute unsere Fahne heraus und ziehen mit ihr zum Lagertor [...] dort gehisst, weht sie frei und stolz, wir machen einen Kreis, eine Schweigeminute, gedenken unserer in Deutschland gestorbenen Kameradinnen und auch derjenigen, die weniger Glück haben als wir, die noch unterwegs sind [...]. Dann erhebt sich der Gesang unserer Marseillaise, wie soll man diese Momente vor dem Block der Mäuse* beschreiben, wo wir so geschlagen, so schikaniert, so verängstigt worden sind. Nun sind wir frei, frei, frei [...]«
(Yvonne Curvale, ehemalige Gefangene des KZ Conti-Limmer)
*Abfällige Bezeichnung der Gefangenen für die SS-Aufseherinnen.
#otd
15.04.1945: Befreiung in Bergen-Belsen

»Und dann ... ein Sonntag. Am 15. April 1945, um vier Uhr nachmittags, stehe ich mit Stephe und einigen anderen Kameradinnen vor der Küche, die an der zentralen Lagerstraße liegt, ziemlich nah am Eingang, und wir sehen die ersten Engländer.
Ich glaube, dass ich für einen kurzen Moment das Bewusstsein verloren habe. Ich kann mich nicht an meine erste Reaktion erinnern. Dann sehe ich, dass geweint und gelacht wird. Es ist ein unbeschreibliches Drängeln hin zu unseren Befreiern, sie werden umarmt und diese doch eigentlich rauen Soldaten haben Tränen in den Augen. Ich laufe wie eine Verrückte zu unserem Block. Wie weit entfernt er ist! ›Sie sind da. Sie sind da.‹ Und wir singen die Marseillaise.«
(Cécile Huk, ehemalige Gefangene des KZ Conti-Limmer)
#otd
24.04.1945: Rückkehr von Bergen-Belsen nach Frankreich
»Die Engländer beeilen sich. Sie begraben die Toten. Sie evakuieren 10 000 Typhuskranke. Aber wir warten noch zehn Tage, bis wir dieses Lager des Grauens und des Schmutzes verlassen können.
Am 24. April 1945, um drei Uhr nachmittags, besteigen wir die Lastwagen. Das Lagertor ist offen. Ich sehe dieselben Bäume wie am Tage unserer Ankunft wieder, und es sind nicht mehr dieselben. Birken, zitternd im Licht, säumen die Straße.
Von allen Lastwagen steigt das Lied der Gefangenen auf:
Oh, Erde, endlich frei,
Wohin wir gehen neu zu leben,
Lieben.«
(Stéphanie Kuder, ehemalige Gefangene des KZ Conti-Limmer)
#otd
30.04.1945: Rückkehr von Hannover-Limmer nach Frankreich
»Als die Lastwagen gegen 10 Uhr eintrafen, wurden sie von einem schallenden ›Hurra!‹ begrüßt. Wir versammelten uns um unsere Fahne und stimmten eine leidenschaftliche Marseillaise an, so verabschiedeten wir uns von diesem verhassten Ort. Fröhlich bestiegen wir die Lastwagen, es ging los ... Adieu, Hannover-Limmer. Adieu, alle Leiden! Das Leben hatte uns wieder, voller Hoffnung ...«
(Simonne Rohner, ehemalige Gefangene des KZ Conti-Limmer)
#otd
#befreitabernichtfrei
08.05.1945: Nach der Rückkehr in Paris
»Ich rannte die Treppen hinauf und stürzte in das kleine Zimmer; eine lebende Leiche erwartete mich. Er sah mich an und ein kleines Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab: ›Ah, da bist du ja, Mama! Du bist auch zurückgekommen ...‹
Er schloss die Augen, ich drückte meine Lippen auf seine schweißüberströmte Stirn, er öffnete erneut die Augen und sagte zu mir: ›Diese Schweine haben mich nicht geschafft!‹
Erschöpft wendete er den Blick ab. Ich blieb nah bei ihm, hielt seine fieberheiße Hand. Die harte Wirklichkeit traf mich tief, ein neuer Kampf wartete auf mich, ein Kampf gegen den Tod, den ich in dem kleinen stickigen Zimmer schon spüren konnte.
Später lag ich in meinem Bett, die Nacht war schrecklich, voller Tränen und Schluchzer. Nein, das war es nicht gewesen, wovon ich geträumt hatte, als ich mir die Rückkehr ausgemalt hatte. Das Leben lastete auf mir. Alle Freude hatte mein Herz verlassen. Sorgen und Ängste kehrten zurück. Der Kampf begann aufs Neue.
Es war der 8. Mai 1945 ...«
(Simonne Rohner, ehemalige Gefangene des KZ Conti-Limmer)
#biografien
#verfolgte
Maria Suszyńska-Bartman
»Wissen die ruhigen Einwohner von Hannover, dass es in der Nähe ihrer Kirche, in der sie beten und ihre Lieder singen, eine Hölle für tausend unschuldige Frauen gibt?«
Maria Suszyńska wird am 1. Dezember 1906 im Dorf Nowa Ruda in der Woiwodschaft Wielkopolskie (Großpolen), Kreis Konin, geboren. Später lebt sie mit ihren Eltern und ihren zwei Brüdern in Warschau.
1938 debütiert sie als Schriftstellerin mit dem Gedicht »Romans« (Romanze).

Am 12. September 1939 fällt während der Verteidigung von Warschau ihr Bruder Jan. Ihr Bruder Szczepan wird im Oktober 1943 verhaftet und am 15. März 1944 in Majdanek ermordet.
Am 1. August 1944 beginnt der Warschauer Aufstand gegen die deutschen Besatzer, der brutal niedergeschlagen wird. Im Zuge der Vergeltungsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung wird Maria Suszyńska um den 20. August inhaftiert und über das Durchgangslager Pruszków in das Konzentrationslager Stutthof bei Danzig verschleppt.
Vom 29. September bis zum 1. Oktober 1944 wird sie in einer Gruppe von 500 Frauen in Güterwaggons nach Hannover deportiert und kommt in das KZ-Außenlager Langenhagen der Brinker Eisenwerke, wo sie in der Munitionsproduktion schwerste Zwangsarbeit leisten muss.
In der Nacht vom 5. auf den 6. Januar 1945 wird das KZ Langenhagen durch einen Bombenangriff zerstört und die Gefangenen werden im nun vollkommen überfüllten KZ Conti-Limmer inhaftiert.
Nach dem Räumungsmarsch in das KZ Bergen-Belsen wird Maria Suszyńska dort am 15. April 1945 befreit.
Sie bleibt zunächst im Displaced Persons Camp Belsen, das die Briten in der nahe gelegenen Wehrmachtskaserne eingerichtet haben; als sie an dem grassierenden Fleckfieber erkrankt, kommt sie in das dortige Krankenhaus. Sie gehört zu den rund 7000 Gefangenen aus dem KZ Bergen-Belsen, die nach dem Krankenhausaufenthalt zur Kur nach Schweden fahren. Die Überfahrt von Lübeck nach Stockholm findet Mitte Juli 1945 statt.
Nach ihrer Rückkehr nach Polen ist Maria Suszyńska wieder als Schriftstellerin tätig. In ihren Büchern »Nieświęte męczennice« und »Odpoczynek w Sigtunie« schreibt sie über den Warschauer Aufstand, ihre KZ-Gefangenschaft und die anschließende Zeit der Erholung in Schweden.
Maria Suszyńska-Bartman stirbt am 25. März 1991 und wird auf dem Friedhof von Bydgoszcz beigesetzt.
Im hannoverschen Stadtteil Limmer ist in direkter Nachbarschaft zum Gelände des ehemaligen KZ Conti-Limmer seit 2018 der Maria-Suszyńska-Bartman-Weg nach ihr benannt.
Maria Suszyńska-Bartmans autobiografischer Bericht »Nieświęte męczennice«, aus dem das Eingangszitat stammt, ist 1971 im Verlag Czytelnik (Warszawa) erschienen. Auf Deutsch wurde er bisher nicht veröffentlicht.
#biografien
#taeterschaft
Lina Hillebrecht – Arbeiterin und KZ-Aufseherin bei der Continental A. G. in Limmer

»Unsere ›Aufseherin[n]en‹ wurden ausgewechselt. Eine von ihnen, Lisa [richtig: Lina Hillebrecht] [...], war eine dunkelhäutige Bohémienne (1) mit einem dunklen Blick, sehr jung, etwa 25 Jahre alt. Sie hatte auch bei Continental gearbeitet. Sie war von erschreckender Brutalität und schlug alle, die lächelten, wenn sie vorbei ging. Sie dachte, man würde sich über sie lustig machen (was tatsächlich der Fall war). Ihre Schläge waren sehr heftig und langanhaltend, und ohne Grund schlug sie immer dieselben Frauen. Wir gaben ihr den Spitznamen ›la Bohémienne‹.« ... so berichtet Annette Chalut, die als 20-Jährige wegen Widerstandstätigkeit aus Frankreich nach Deutschland ins KZ Conti-Limmer deportiert worden war.
Wie war Lina Hillebrecht zur KZ-Aufseherin geworden?
Irgendwann im April, Mai 1944 hatte die Continental A. G. im Werk Hannover-Limmer die Arbeiterinnen ganzer Jahrgänge versammelt. Wie in vielen anderen Betrieben zu dieser Zeit erschien hier der SS-Offizier Edmund Bräuning und erklärte, dass er Aufsichtsführende für ein Umerziehungslager in Ravensbrück brauche. Er beschrieb die Tätigkeit in schönen Farben, pries die vorzügliche Verpflegung, die Unterbringung und das gute Einkommen. Konzentrationslager und Häftlinge erwähnte er angeblich nicht. (2)
Mehrere junge Frauen meldeten sich freiwillig. Darunter auch die ledige Lina Hillebrecht. Im Juni 1944 kam sie in das Frauen-KZ Ravensbrück und wurde dort in ihre Tätigkeit als KZ-Aufseherin eingewiesen. Schon nach einer Woche wurde sie in ein KZ-Außenlager bei einem Rüstungsbetrieb in Magdeburg versetzt, und nach weiteren vier Monaten kam sie in das KZ-Außenlager Conti-Limmer in Hannover. Ein halbes Jahr zuvor war sie in diesem Betrieb selbst Arbeiterin gewesen.
Am 14. Dezember wurde sie 1919 in der Fannystraße 37 (3) geboren, wo sie auch aufwuchs. Dieser »Fanny-Block« war eine Mietskaserne, die 1854 von der Hannoverschen Baumwollspinnerei als Werkssiedlung in zwei zweigeschossigen Häuserreihen angelegt worden war. Diese Wohnumgebung war selbst im Arbeiterstadtteil Hannover-Linden eine der ärmlichsten. Die schlichten Wohnungen bestanden überwiegend aus drei, zum Teil aber auch aus vier Räumen und waren ca. 30 qm groß. (4) Die sanitären Verhältnisse waren katastrophal, und die hygienischen Probleme besserten sich nur geringfügig, als nach der großen Thyphusepidemie, von der im Herbst 1926 ausschließlich die Arbeiterviertel Linden, Ricklingen und Altstadt betroffen waren, (5) Wasserspülklosetts im Fanny-Hof eingerichtet wurden.
In dem besonderen sozialen Mikrokosmos des Fanny-Blocks, zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterfamilien, lebte Lina Hillebrecht zusammen mit ihren Eltern, der Schwester Emma (geboren am 15.07.1915) und den zwei Brüdern in der Wohnung. Nach der Eheschließung der Schwester 1935 war die beengte Wohnsituation wahrscheinlich etwas erträglicher geworden.
Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern war im Wohnumfeld im Allgemeinen durch Forderung nach striktem Kadavergehorsam geprägt. »Erwachsene und Kinder erlebten sich einfach ganz unmittelbar im Alltag, wobei der alltägliche Kontakt sich in erster Linie als striktes Respektsverhältnis darstellte: Unterordnung der kindlichen Bedürfnisse unter die Interessensperspektive der Erwachsenen, die weitgehend durch die materielle Not geprägt war. ›Respekt haben – nicht frech sein – sich ruhig verhalten – die Pflichten erfüllen – keine Widerworte haben – keine Konflikte riskieren – keine unangemessenen Wünsche riskieren‹, so wird fast durchgängig die Beziehungen zu den Eltern, zu Erwachsenen überhaupt charakterisiert.« (6) Die Mitarbeit der Kinder war eine selbstverständliche Pflicht in den Familien.
Politisch dominierten die Arbeiterparteien. Zeitzeugen erinnerten rückblickend ein SPD-Übergewicht, aber auch ein Verhältnis SPD:KPD von 50:50. »Zugehörigkeit zu Arbeitervereinen, insbesondere dem Arbeitersport und der Gewerkschaft, war verbreitet.« (7)
1941 verlobte sich Lina Hillebrecht mit dem sieben Jahre älteren Kurt aus der Viktoriastraße.
Seit Juli 1941 war sie als Arbeiterin im Werk Limmer der Continental A.G. beschäftigt. Dorthin kehrte sie im Oktober 1944 in Uniform zurück. Sie musste nicht wie die meisten anderen SS-Aufseherinnen im Lager übernachten und hatte die Genehmigung, zu Hause zu schlafen. Täglich ging sie nach der zwölfstündigen Dienstzeit die zwei Kilometer in die Wohnung zurück.
Als das Lager geräumt wurde, will sie im April 1945 auf eigenes Risiko nach Hause gegangen sein.
Als am 10. April amerikanische Truppen in Hannover einrückten, hingen im Fanny-Block rote Fahnen aus den Fenstern! (8)
Nachdem Lina Hillebrecht von ehemaligen KZ-Häftlingen erkannt worden war, flüchtete sie im September 1945 nach Düsseldorf. Zwei Monate später kam sie nach Hannover zurück und arbeitete ab Dezember 1945 in einem Bekleidungsamt der Besatzungsmacht, bis sie am 20. März 1946 in der Fannystraße verhaftet wurde. Die Wohnadresse war den französischen Gefangenen schon im Lager bekannt geworden; als einzige SS-Aufseherin aus dem KZ Conti-Limmer wurde sie vor Gericht gestellt. Das Festnahmeprotokoll sagt aus: Beruf Näherin, 1,68 m groß, 55 kg schwer, dunkelbraune Haare, grüne Augenfarbe, frischer Teint.
Im Ermittlungsverfahren gab Lina Hillebrecht zu, drei Französinnen und 5 Russinnen mit der Hand ins Gesicht geschlagen zu haben. (9) Ein französisches Militärgericht verurteilte sie am 17. September 1947 zu 10 Jahren Gefängnis. (10) Lina Hillebrecht musste ihre Strafe im Strafgefängnis Germersheim bei Speyer antreten.
Durch den französischen Hohen Kommissar wurde im Gnadenwege ein Strafnachlass gewährt, und am 12. April 1952 endete die Strafhaft. Durch das Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland wurde Hillebrecht »entsprechend betreut«. Am 18.04.1952 wohnte Lina Hillebrecht wieder in der Fannystraße 37, die nun eheliche Wohnung ihrer Schwester war. Die Eltern waren mittlerweile verstorben. (11)
Am 19.08.1953 schloss sie mit ihrem langjährigen Verlobten die Ehe. Trotz des Frauenüberschusses nach Kriegsende und der sechsjährigen Haftzeit war er ihr verbunden geblieben. 1953 zog das Ehepaar in die Schulenburger Landstraße 110, einen großen Wohnblock in wenig attraktiver Wohnlage. 1955 wurde eine Tochter geboren. (12) Im März 1980 starb der Ehemann. Das Leben von Lina Sch. endete sechs Jahre später im Oktober 1986 im Viethof 19 in Hannover-Vahrenwald. (13)
Was hatte 42 Jahre zuvor die junge Frau bewogen, sich für die Tätigkeit im KZ zu melden? Hatte der höhere Lohn gelockt? War es die Hoffnung auf sozialen Aufstieg gewesen – von der Arbeiterin zur Angestellten? Wollte sie dem ärmlichen Leben im Fanny-Block entfliehen?
Es bleiben viele offene Fragen ...
(1) ›Zigeunerin‹
(2) vgl. Margarete Buber-Neumann: Als Gefangene bei Stalin und Hitler, Stuttgart, Herford 1985, S. 312.
(3) Adressbuch v. Hannover u. Linden 1920.
(4) Ilse Winter: Alltag und Arbeiterkultur in der Fannystraße, Typoskript, Diplomarbeit 1978, S. 65.
(5) https://www.spiegel.de/geschichte/typhus-epidemie-in-hannover-a-947264.html
(6) Winter: Alltag, S. 85.
(7) ebd.
(8) Ruth Loah: Kinderszenen im Kriege, in: Helmut Schmidt et al.; Kindheit und Jugend unter Hitler, Berlin 1992.
(9) Aussage der Lina Hillebrecht am 19. März 1946 (PRO: WO 309/406).
(10) Über den Prozess erschien 1993 ein Artikel, in dem aus Zeuginnenaussagen ehemaliger Gefangener des KZ Limmer zitiert wird: Hanna Elling, Ursula Krause-Schmitt: »Die Ravensbrück-Prozesse vor französischen Militärgerichten in Rastatt und Reutlingen«.
(11) Der Vorstand des Strafgefängnisses Germersheim im Schreiben an die Zentrale Rechtsschutzstelle in Bonn vom 12.05.1952, in Akte ZRS_Gnadenverf. Lina Hillebrecht.
(12) Einwohnermeldekartei Hannover.
(13) Auskunft der Meldebehörde.
#initiativen
Gedenktafel 1947

Kurz nach der Befreiung vom Nationalsozialismus, die von der Mehrheitsgesellschaft damals allerdings nicht als Befreiung, sondern als Niederlage und Zusammenbruch empfunden wurde, ging die Initiative zum Gedenken an die Verbrechen fast ausschließlich von ehemaligen NS-Opfern aus. So war es der »Hauptausschuss ehemaliger politischer Gefangener«, kurz »KZ-Ausschuß« genannt, der im Herbst 1947 Erinnerungstafeln an den Standorten der ehemaligen Konzentrationslager aufstellen ließ – so auch am KZ Limmer.
Das Gedenken wurde von der hannoverschen Bevölkerung jedoch weitgehend ignoriert. So rief schon 1946 bei einer Feier zur Erinnerung an die Opfer des KZ Mühlenberg ein Redner: »Hannoveraner, wo seid ihr? Habt ihr die 12 Millionen Opfer schon vergessen, lassen euch die Greuel der Konzentrationslager so unbeirrt, daß ihr schon nicht mehr gedenkt?«*
Dies sollte bis Anfang der 1980er-Jahre so bleiben …
* Hannoversche Nachrichten vom 8. April 1946, zit. nach Rainer Fröbe u. a.: Konzentrationslager in Hannover – KZ-Arbeit und Rüstungsindustrie in der Spätphase des Zweiten Weltkriegs, Hildesheim 1985, S. 558.
#initiativen
Gedenkstein 1987
Wie allgemein in Westdeutschland verschwand auch in Hannover in den 1950er-Jahren die öffentliche Erinnerung an die KZ-Außenlager in der Nachbarschaft.
Erst 1977 fand an der Uni Hannover eine erste Lehrveranstaltung dazu statt. Aus der wissenschaftlichen Arbeit folgten Anfang der 80er-Jahre erste Ausstellungen und Zeitungsartikel.
1984 fasste der SPD-dominierte Bezirksrat Linden-Limmer einstimmig den Beschluss, eine Gedenktafel für das KZ Limmer aufzustellen. 1985 gründete sich aus der »Friedensinitiative Limmer« heraus eine »Arbeitsgruppe Gedenktafel KZ Limmer«, die einen Text für die Tafel erarbeitete, der nach leichter Veränderung mit den Stimmen von SPD und DKP im Stadtbezirksrat beschlossen wurde.Der Verwaltungsausschuss der Stadt zog jedoch einen sehr unkonkreten Text vor, der auch die Nutznießer der Zwangsarbeit der Gefangenen nicht benannte.
Es ist dem Widerstand aus dem Stadtbezirksrat und der beharrlichen Arbeit der Bürgerinitiative zu verdanken, dass diese Tafel so nicht errichtet wurde. Nach der Kommunalwahl 1986, die die CDU/FDP-Mehrheit im Stadtrat beendete, beschloss der Verwaltungsausschuss dann den Text, der heute auf der bronzenen Gedenktafel zu lesen ist.
Am 15. Mai 1987 wurde die von dem Bildhauer Heinz Teichmann gestaltete Gedenktafel im Beisein der ehemaligen KZ-Häftlinge Antonia Czachor und Gloria Hollander-Lyon sowie des damaligen Oberbürgermeisters Herbert Schmalstieg an der Kreuzung Sackmannstraße / Stockhardtweg, in der Nähe des ehemaligen Ortes der südöstlichen Lagerecke, eingeweiht.
#initiativen
Informationstafel 2015
Lange Zeit erinnerte nur eine eher unauffällige, 1987 auf einem niedrigen Sockel angebrachte Gedenktafel an das KZ Conti-Limmer. Selbst vielen Bewohner_innen des Stadtteils blieb sie unbekannt.
1999 gab die Continental AG ihren Betrieb in Limmer auf, und die Überplanung des Werks- und damit auch des ehemaligen KZ-Geländes zum Wohngebiet »Wasserstadt Limmer« begann. Im Jahr 2004 beschloss der Bezirksrat Linden-Limmer, dass auf dem Conti-Gelände ein »angemessener Ort des Gedenkens« geschaffen werden soll. Gleichwohl geschah lange Zeit nichts.
Daher hat sich 2008 der Arbeitskreis »Ein Mahnmal für das Frauen-KZ in Limmer« gegründet, eine rein ehrenamtliche Initiative, die seitdem zur Geschichte des Lagers geforscht, Berichte ehemaliger Gefangener gesammelt, mit Zeitzeug_innen aus Limmer gesprochen und erste Ergebnisse 2011 als Broschüre veröffentlicht hat. 2012 war die ehemalige Gefangene Dr. Annette Chalut in Hannover und berichtete über ihre Haft in Limmer.
Bisher sichtbarster Ausdruck unserer Arbeit ist eine städtische Informationstafel neben dem Gedenkstein, die der Arbeitskreis gestaltet hat und die am 10. April 2015 – dem 70. Jahrestag der Befreiung des Lagers – eingeweiht wurde.
Unser Ziel bleibt weiterhin die Schaffung eines gut sichtbaren Gedenkorts für das KZ-Außenlager Conti-Limmer. Wer dabei mitwirken möchte, ist herzlich dazu eingeladen, mit uns Kontakt aufzunehmen!
#historischeorte
Baracken des KZ Conti-Limmer, 1959. Ein Zeitsprung.

In diesen KZ-Baracken, ursprünglich ausgelegt für 500 Personen, waren zeitweise mehr als 1000 Frauen aus Frankreich, Polen, Russland und anderen Ländern eingepfercht , die u. a. Zwangsarbeit im Contiwerk leisten mussten.
Nach Kriegsende zogen für einige Zeit Flüchtlinge ein. Danach wurde das Gelände als Gartenkolonie für Conti-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter genutzt, bis diese Lagerplätzen für Altgummi, Altreifen, Fabrikationsmüll Platz machen mussten. Anfang der 1960er-Jahre dann der Abriss der Baracken, moderne Lagergebäude folgten.
Das ehemalige KZ war restlos verschwunden … Auch die Erinnerung daran ...
#historischeorte #objekte
Isolator

Mai 2015. Die Stadt Hannover veranlasst archäologische Grabungen auf dem Gelände des ehemaligen KZ Conti-Limmer. Ein Schaufelbagger gräbt sich vorsichtig in den Boden aus Erde, Steinresten, Bodenschlacke, Glasfragmenten, Tonscherben. Der Boden wird glattgezogen. Eine Doppelreihe runder, dunkler Bodenverfärbungen wird sichtbar. Spuren des Doppelzauns, einer davon Sichtschutz, der andere Elektrozaun. Und nur schwarze Spuren, die geblieben sind, sichtbar gemacht durch Anfeuchten. Suche nach Gegenständen aus dem ehemaligen KZ. Fundstück: Ein Isolator. Sichtbarer Ausdruck des Gefangenseins, des Zwangs, der Unmenschlichkeit.
#historischeorte
Boden einer Baracke des KZ Conti-Limmer, November 2015
Anfang der 1960er werden die Baracken des KZ Limmer abgerissen. Ihre Geschichte, das Leid, das sie gesehen und gehört haben, werden zugeschüttet, verschwinden unter Betonfundamenten für Lagerhäuser und einer neuen Straße.
Im Juli 1967 brennen Lagerhäuser und Reifenberge. Grauschwarze Rauchwolken verdunkeln den Himmel. Das ehemalige KZ versinkt noch tiefer in der Erinnerung.
November 2015. Die Straße wird abgerissen, da sie nicht in das neue Wohngebiet passt. Die Stadt Hannover veranlasst die archäologische Begleitung. Plötzlich stößt der Bagger auf Widerstand. Dann liegt ein Teil einer ehemaligen Baracke wieder frei. Fliesenreste, ein Kaminzug. Geschichte wird sichtbar.
#formendererinnerung
Der Conti-Turm verweist unübersehbar auf das ehemalige KZ-Außenlager Conti-Limmer ... Auch deshalb hier noch einmal der großartige Songtext von Joy Bogat, die das Lied eigens für die Eröffnung des Zeitzentrums Zivilcourage der Landeshauptstadt Hannover am 12. März 2021 geschrieben hat, zum Nachlesen und Nachdenken.
Joy Bogat »Meine Stadt«
Er kennt die Straßen hier wie keiner
Läuft vorbei am Capitol, immer Richtung Leine
Ab zur Arbeit, Limmerstraßen-Treiben
Und nach Feierabend geht's für ihn noch weiter
Er liebt die Stadt, liebt's jede Ecke denen zu zeigen
Die ihre Schönheit nicht erkennen, aber er weiß nicht
Dass nichts bleibt, sie ihn vertreibt
Nur was bleibt ist sein Koffer aus einer anderen Zeit
Was ist davon noch übrig?
Wer spricht über die Orte
All die Dinge, die dort vor uns waren?
Soviel davon noch übrig
Wenn wir's wagen zu schauen
Ein Blick nach hinten, ja der lohnt sich
Wenn damit Weitsicht kommt und Klarsicht
Wir laufen alle unweigerlich vorbei an so vielen Geschichten
Und wir sehen sie nicht
Ein Blick nach hinten, ja der lohnt sich
Denn wir sind Teil von 'ner Geschichte, die hat's in sich
Wir laufen alle unweigerlich vorbei an so vielen Geschichten
Und wir sehen sie nicht
Ich kenn das selbst
Ich mag's im Hier und jetzt zu treiben
Fahr jeden Sommer raus zur Schleuse
In meinem Kopf ist das der schönste Ort der Welt
Wenn die Sonne brennt
Und gegen Abend hinterm Conti-Turm Schatten fällt
Da wo ich sag »Ich fühl mich hier zuhaus«
War es ein Ort der Angst, ja für Tausende
Ist keine hundert Jahre her
Aber Erinnerung verblasst, ich frag mich
Was ist davon noch übrig?
Wer spricht über die Orte
All die Dinge, die dort vor uns waren
So viel ist davon noch übrig
Wenn wir's wagen zu schauen
Ein Blick nach hinten, ja der lohnt sich
Wenn damit Weitsicht kommt und Klarsicht
Wir laufen alle unweigerlich vorbei an so vielen Geschichten
Und wir sehen sie nicht
Ein Blick nach hinten, ja der lohnt sich
Denn wir sind Teil von 'ner Geschichte, die hat's in sich
Wir laufen alle unweigerlich vorbei an so vielen Geschichten
Und wir sehen sie nicht
Ja das nächste Mal, wenn Du unterwegs bist
Schau mal hoch
Hinter jeder Ecke wartet die Erinnerung
Und hofft, dass Du sie siehst
Dass Du sie annimmst und weiterträgst
Also glaub mir
Ein Blick nach hinten, ja der lohnt sich
Wenn damit Weitsicht kommt und Klarsicht
Wir sind alle Teil von so viel Geschichte
Ob wir wollen oder nicht
#befreitabernichtfrei
Die Unmöglichkeit, zu vergessen

Das Konzentrationslager Conti-Limmer bestand vom Sommer 1944 bis zur Befreiung durch die britische Armee im Frühjahr 1945. Hier waren über 1000 Frauen eingesperrt, die im Conti-Werk Limmer, in den Brinker Eisenwerken in Langenhagen und bei der Enttrümmerung in Linden Zwangsarbeit leisten mussten.
Die Gefangenen waren französische Résistance-Angehörige, Überlebende aus dem Umfeld des Warschauer Aufstandes, spanische Republikanerinnen, Soldatinnen der Roten Armee, Romnija aus dem Baltikum und aus ihren abgebrannten Dörfern verschleppte Frauen aus dem Gebiet des heutigen Weißrussland/Belarus.
Sie hatten vor der Verlegung nach Limmer bereits andere KZs überstanden. Die meisten der Frauen wurden – völlig erschöpft, krank und hungrig – vor der Befreiung noch gezwungen, nach Bergen-Belsen zu laufen. Viele von ihnen starben dort.
Mit der Befreiung war all das nicht vorbei.
In der nichtverfolgten deutschen Bevölkerung wurden schnell Forderungen nach einem »Schlussstrich« laut. Niemand wollte ein »Nazi« gewesen sein, und die Schuldabwehr breitete sich über das Land wie ein kollektiver Gedächtnisverlust.
Die Verfolgten, Überlebenden, Befreiten aber konnten nicht vergessen.
Auch nach der Heimkehr blieben die Torturen in den Köpfen und Körpern präsent. Die Welt der Menschen außerhalb des Lagerkosmos, der Umgang mit ihnen, war fremd geworden.
Das KZ verfolgte die befreiten Frauen weiter, auch nachdem sie es verlassen hatten.
Und es verfolgte auch ihre Kinder.
Ein beklemmendes Beispiel fanden wir in einem Bericht, der ein Schlaglicht wirft auf die Lebenssituation einer Frau und Mutter nach ihrer Befreiung aus dem KZ Conti-Limmer.
Die Comtesse Béatrice de Flers, geboren 1899 in Paris, schloss sich nach der deutschen Besetzung Frankreichs gemeinsam mit ihrem Ehemann der Résistance an. Sie halfen, abgeschossene alliierte Flieger zu retten. 1943 wurden sie verhaftet. Béatrice wurde in das KZ Ravensbrück und von dort nach Hannover-Limmer deportiert, ihr Mann Marcel, der Vater ihrer vier Kinder, im KZ Mauthausen ermordet.
Béatrice de Flers verstarb 1965 in Paris.
Zwanzig Jahre zuvor hatte sie in Limmer in einer elenden Baracke gehaust, umgeben von elektrisch geladenen Stacheldrahtzäunen, unter Hunger und Krankheiten leidend, und jeden Morgen von SS-Aufseherinnen zur Arbeit in die Gummifabrik getrieben. Auf ihrem Streifenkittel trug sie die Häftlingsnummer »4857« über dem roten Winkel der politischen Gefangenen.
Von Béatrice de Flers und ihren Kindern erzählt Sylvia Couturié in ihrem autobiografischen Buch »No Tears in Ireland«.
Sylvia Couturié wurde 1939 von ihren Eltern getrennt. Sie war als 11-jähriges Kind mit ihrer Nanny nach Irland gereist und musste wegen des Kriegsausbruchs dort bleiben. Erst 1945 konnte sie zu ihren Eltern nach Le Mesnil in Frankreich zurückkehren.
Ostern 1945 bekam die Familie Besuch:
Es kommen auch die dreizehnjährigen Zwillinge Johnny und Bertie de Flers. Sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater sind in Konzentrationslagern, da sie im Widerstand sehr aktiv waren. Sie waren sehr mutig und haben vielen Menschen das Leben gerettet. Ich freue mich sehr darauf, sie kennenzulernen. [...] Sie haben zwei Schwestern, Beatrice und Marie-Claire, die in unserem Alter sind, aber nicht kommen, da sie getrennt zu anderen Leuten in den Urlaub gefahren sind. Ich denke, dass sie es hassen müssen, in einer so dramatischen Zeit nicht zusammen zu sein, wo sie doch bereits von ihrem Vater und ihrer Mutter getrennt sind, von denen sie keine Nachricht erhalten haben. [...]
Johnny und Bertie, die perfekt Englisch sprechen, gehen nicht zurück zu ihrer Schule in Paris, sie sollen länger [bei uns] in Le Mesnil bleiben und ich frage mich, warum.
Ein paar Tage später sitze ich mit einem Buch in der Nähe des Hauses, als ich Johnny in den Garten rennen sehe. Ich renne ihm nach und finde ihn zusammengesackt auf einer Bank beim Tennisplatz. Mein Vater hat ihm und seinem Bruder gerade gesagt, dass ihr Vater gestorben ist, aber dass ihre Mutter lebt und in ein paar Tagen in Le Mesnil ankommen wird.
Ich halte Johnny in meinen Armen, seine liegen um meinen Hals und ich denke, dass sein Schluchzen niemals aufhören wird. Nichts kann sein Weinen stoppen, keine Worte können ihn trösten, das Herz des kleinen Jungen ist gebrochen. Nach einer langen Zeit gehen wir durch die Küchentür zurück ins Haus. Ich bringe Johnny in sein Zimmer und ziehe ihm Schuhe und Jacke aus, ich lege ihn ins Bett und decke seinen zitternden Körper mit einer Decke zu. Dann ziehe ich die Vorhänge zu, und er weint immer noch, als er einschläft. Dann gehe ich und suche nach dem armen kleinen Bertie, der nirgends zu finden ist. Ich sage es meinem Vater, und alle fangen an, nach ihm zu suchen, aber ohne Erfolg. [...] Bertie taucht am nächsten Tag zur Mittagszeit auf, aber er ist nicht mehr derselbe Junge, er spricht nicht, er weint nicht, er steht unter Schock und ist vor Panik und Schmerz völlig stumpf geworden und ich denke, dass meine ganze Traurigkeit im Vergleich zu der ihrigen gering ist. [...]
Madame de Flers kam ein paar Tage später aus Ravensbruck [richtig: aus Hannover-Limmer]. Sie ist groß, über 1,70 Meter, wiegt aber nur 30 Kilo. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so dünn ist, so völlig kahl, mit großen leblosen, eingesunkenen Augen.
Sie isst eine winzige Menge in ihrem Zimmer und spricht nur flüsternd. Wenn das Wetter warm ist, wird sie in den Garten gebracht, an den Teich mit seinen Goldfischen und Seerosen, und dort sitzt sie unbeweglich in einem Sessel. Bertie sitzt schweigend auf einem Stuhl neben ihr.
Sie will niemanden sonst. Sie fragt nicht nach ihren Töchtern oder nach Johnny, also sitzen er und ich auf der Bank des Tennisplatzes in der Ferne und schauen ihnen zu und halten uns gegenseitig die Hand. Nach einer Weile flüstert Johnny mir zu:
»Sie will mich nicht, sie liebt mich nicht mehr.«
»Sie ist sehr krank, schau, wie dünn sie ist, sie ist noch nicht stark genug, um dich auch zu lieben, sie kann sich nur an einen Menschen auf einmal gewöhnen zur Zeit, sie wird dich vielleicht lieben, wenn es ihr besser geht ...«
»Wird sie sterben?«
»Das glaube ich nicht, alle kümmern sich um sie ...«
»Aber sie will mich nicht ...«
[...]
Madame de Flers erholte sich langsam, aber nie ganz. Von ihren vier Kindern liebte sie nur eines. Ihre älteste Tochter Beatrice war so traumatisiert, dass sie Selbstmord beging [...].
Wir werden zu Erwachsenen mit zerrütteten Kindheiten mit tiefen unsichtbaren Narben. Da wir selten über unsere Gefühle sprechen, ignorieren uns die Erwachsenen schnell mit den Worten: »Sie sind jung, sie werden es vergessen …« und gehen ihren üblichen Geschäften und Vergnügungen nach. Kinder leiden anders. Anders als Erwachsene verstehen sie in Kriegen nicht die Gründe und niemand erklärt sie ihnen. Sie nehmen nicht an heroischen Aktionen oder großen Abenteuern teil und sie haben nicht den Trost von Liebesaffären, die tausendmal aufregender und leidenschaftlicher sind als im Frieden. Sie, die armen kleinen Teufelchen, sind immer allein und verängstigt in ihren kalten und engen Betten.Ein paar Tage später bat Madame de Flers darum, nach Paris gebracht zu werden. Sie reiste eines frühen Morgens mit ihren Söhnen ab.
#zukunftdererinnerung
Das verschüttete Lager wieder sichtbar machen
Ein zentrales Ziel unseres Arbeitskreises ist ein Gedenkort, der die Lage und Größe des KZ Conti-Limmer wieder vorstellbar macht. Dessen letzte Spuren sind vor rund 60 Jahren beseitigt worden.
Auch die Straßen und Gebäude der jetzt im Bau befindlichen »Wasserstadt Limmer« nehmen keinen Bezug auf das Lagergelände, das zu einem großen Teil unter den Neubauten verschwinden wird. Es werden hier aber Straßen nach ehemaligen Gefangenen benannt und die Neugestaltung des Areals bietet die Möglichkeit, die ehemalige Lager-Topografie vorstellbar und den historischen Ort besser »lesbar« zu machen.
Die Grundidee unseres Entwurfs ist es, in einer früheren Lagerecke das Geländeniveau, das ca. 50 bis 80 cm unter der heutigen Oberfläche lag, annähernd wiederherzustellen und mit einem Bodenbelag zu versehen, der an den schwarzen Schlackeboden des Lagergeländes erinnert.
Durch die symbolische »Ausgrabung« soll die historische Schicht der Zeit des Nationalsozialismus, über die jahrzehntelang im Wortsinne »Gras gewachsen« war, freigelegt und in Erinnerung gerufen werden.
Neben und nicht auf dem ehemaligen Lagergelände, das eher als ein der Nutzung entzogener Bereich wirken soll, enthält unser Entwurf einen Platz für die Informationsvermittlung zum KZ Conti-Limmer, der auch ausreichend Raum für Gedenkveranstaltungen bietet.
Wichtig ist, alle Elemente des Gedenkortes so zu gestalten, dass sie nicht wie Rekonstruktionen wirken, sondern Symbolisierungen darstellen.
Im Sommer 2021 werden unsere Ideen für den Gedenkort im Rahmen der Bürgerbeteiligung zur öffentlichen Diskussion stehen.
Eine ausführliche Beschreibung enthält die folgende PDF-Datei.