Vor 78 Jahren: Die Jüdin Lili kommt aus Ausch­witz nach Hannover-Limmer

»Einige Tage nach­dem ich ins Revier aufge­nom­men worden war, kamen in der Nacht drei Häft­linge aus Ausch­witz; zwei verlie­ßen das Lager morgens mit der SS wieder, eine blieb: Lili. […] Ihre zwölf­jäh­rige Toch­ter war mit 500 weite­ren Kindern in die Gaskam­mer geschickt worden.« (Simonne Rohner)

Simonne Rohner, Gefan­gene des KZ Conti-Limmer, schreibt in ihrem kurz nach der Befrei­ung verfass­ten Bericht »En enfer …« über den Novem­ber 1944:

»Einige Tage nach­dem ich ins Revier aufge­nom­men worden war, kamen in der Nacht drei Häft­linge aus Ausch­witz; zwei verlie­ßen das Lager morgens mit der SS wieder, eine blieb: Lili. Sie war Unga­rin, Jüdin, 40 Jahre alt, das Gesicht vom Leiden gezeich­net, pracht­volle Zähne, kurze lockige Haare, ihr Mann, ein Chir­urg, war dort an Typhus gestor­ben. Ihre zwölf­jäh­rige Toch­ter war mit 500 weite­ren Kindern in die Gaskam­mer geschickt worden. Als sie uns diese schreck­li­che Situa­tion schil­derte, woll­ten wir ihr nicht glau­ben: ›Sie über­treibt, sie ist verrückt!‹ Konnte so etwas sein? Jeden Tag erfuh­ren wir neue Einzel­hei­ten über die Hölle von Ausch­witz, Zwei­fel zunächst, dann die Gewiss­heit, dass unser Lager im Vergleich dazu das Para­dies war. Übri­gens sagte Lili zu uns: ›Glaubt mir, ihr seid hier glück­lich dran …‹ Glück­lich? Ja, trotz allem, vergli­chen mit dem Leben, das Lili uns beschrieb, waren wir hier glück­lich. Sie war eine intel­li­gente Frau, auch wenn ihre geis­ti­gen Kräfte nach­ge­las­sen hatten, sie sprach mehrere Spra­chen, war sehr gebil­det, sehr musi­ka­lisch, sie sang uns wehmü­tige Lieder voller Heim­weh aus ihrer Heimat vor. Die [SS-Oberaufseherin] ›Rousse‹ bestimmte sie zur Hilfs-Krankenschwester von France.

Ich hatte häufi­ger die Gele­gen­heit, mich mit ihr zu unter­hal­ten, und so erfuhr ich Einzel­hei­ten über den Tod ihrer Toch­ter. Lili brach in Tränen aus, die Geschichte war fürch­ter­lich. Das Kind hatte Schar­lach, aber war schon auf dem Weg der Besse­rung, als eines Morgens Last­wa­gen vorfuh­ren, in denen schon Kinder waren. Die Kinder aus dem Revier, ob krank oder auf dem Weg der Gene­sung, muss­ten nackt vortre­ten. Lili arbei­tete als Kran­ken­schwes­ter in einem Gebäude in der Nähe, sie eilte herbei, warf sich dem Chef­arzt zu Füßen, beschwor ihn, er stieß sie mit Schlä­gen seiner Reit­gerte weg: ›Juden brau­chen keine Kinder!‹ … Die Kleine sah ihre Mutter und rief ihr zu: ›Mama, rette mich, ich bin zu jung um zu ster­ben, Mama, Mama!‹ Lili saß weinend unter uns und wieder­holte nur: ›Mein klei­nes Mädchen, mein armes klei­nes Mädchen!‹ Sie warf sich vor, dass sie nicht den Mut gehabt hatte, mit ihr zu ster­ben; dann beschrieb sie plötz­lich ihr Heimat­land, die Feste, Thea­ter­stü­cke. Arme Lili!«

Die beiden ande­ren jüdi­schen Frauen wurden vermut­lich in das KZ Langen­ha­gen gebracht, denn Maria Suszyńska-Bartman berich­tet in ihrem Buch »Nies­więte męczen­nice« noch über die Zeit in Langen­ha­gen:

»Zwei jüdi­sche Frauen aus Ungarn kamen im Lager an. […] Sie soll­ten für die Kopf­hy­giene zustän­dig sein.«

Nach der Bombar­die­rung und Zerstö­rung des KZ Langen­ha­gen wären die beiden zusam­men mit den ande­ren Gefan­ge­nen am 6. Januar 1945 wieder in das KZ Conti-Limmer gelangt.

Sehr wahr­schein­lich waren Lili und die beiden ande­ren Frauen in einer Gruppe von 20 gefan­ge­nen Kran­ken­pfle­ge­rin­nen aus dem KZ Ausch­witz über das KZ-Außenlager Salzgitter-Watenstedt gekom­men. Dort wurden die Frauen auf die Neuen­gam­mer Frauen-Außenlager für die Verwen­dung in den Sanitäts-Revieren verteilt.

Die polni­sche Phar­ma­zeu­tin Zofia Pracka-Raczynska berich­tete später in einem Brief an eine polni­sche Zeit­schrift:

»Im Okto­ber 1944 wurde ich […] von Dr. Mengele zum ›Trans­port‹ aussor­tiert. Nach der Quaran­täne […] fuhr ich Anfang Novem­ber ins Unbe­kannte. 20 Gefan­gene in einem Perso­nen­zug, eskor­tiert von 8 SS-Leuten. Das deut­sche Volk sah es mit Empö­rung, ich hörte sogar Worte wie: ›Ihr soll­tet an der Front kämp­fen und nicht auf diese wehr­lo­sen Frauen aufpas­sen.‹ Wir fuhren […] nach Watten­stadt […]. Nach­her wurden wir in verschie­dene Lager heraus­ge­schickt.«

Im »Kalen­da­rium der Ereig­nisse im Konzentra­tions­lager Auschwitz-Birkenau« finden sich fünf solche Trans­porte, mit denen im Novem­ber 1944 und im Januar 1945 insge­samt 22 Frauen aus Ausch­witz in das KZ Neuen­gamme bzw. dessen Außen­lager gebracht wurden (vgl. Hans Ellger: »Zwangs­arbeit und weib­liche Über­le­bens­stra­te­gien – Die Geschichte der Frau­en­au­ßen­la­ger des Konzen­tra­ti­ons­la­gers Neuen­gamme 1944/45«, S. 274 f.).